Wednesday, 14 March 2012

REVIEW // LETTRE INTERNATIONAL (#96, Frühjahr 2012) "Eugen Bavcar - Blinder Flaneur in Paris"

Courtesy www.lettre.de



Evgen Bavčar

BLINDER FLANEUR IN PARIS

Erfahren, ohne zu sehen – Träume und Blicke von einem anderen Ort.


Der Kalender zeigte den 9. November 1972, als der berühmte Simplon-Express mich zusammen mit vielen anderen Jugoslawen an der Pariser Gare de Lyon ausspuckte, den für Auswanderer typischen großen Reisekoffer in Händen. Es war keine Reise wie die anderen, denn ich verließ mein kleines Geburtsland Slowenien, eine der sechs Republiken Jugoslawiens, das unser alter Marschall Tito als absoluter Herrscher regierte.
An jenem 9. November 1972 wimmelte die Gare de Lyon von Reisenden, und kaum waren meine Nüstern zu neuem Leben erwacht, begannen sie die Gerüche und Düfte der Cafés wahrzunehmen. Ich erkannte sogleich den Rauch der berühmten Zigaretten, der Gitanes oder der Gauloises, die zuweilen auch bis in mein Heimatland vorgedrungen waren. Ihr seltener Duft ließ uns von Frankreich und Paris träumen. Indem wir diese Zigaretten – eine noch größere Rarität waren Gitanes oder Boyards mit Maispapier – rauchten, konnten wir Frankophile uns mit Hilfe dieser Droge, die damals noch als harmlos galt, alle möglichen Traumbilder wachrufen. Wir konnten uns der französischen Kultur näher fühlen, und die Stimmen von Edith Piaf, Charles Aznavour, Jacques Brel, Georges Brassens, Léo Ferré und so vieler anderer klangen umwölkt von französischem Tabak noch besser. Für uns war das ein Luxus, und ich erinnere mich noch an die Freude, die ich verspürte, als ich mir von den knappen Einkünften aus dem Stipendium der französischen Regierung im Herzen des Landes des Kleinen Prinzen mein erstes Päckchen Gauloises kaufte.
(...)


veröffentlicht auf www.lettre.de
Im Heft auf Seite 68
Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek

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