Lets Get Nasty, Courtesy Galerie Susanne Zander
Kennen Sie Mingering Mike?
Ein Privatdetektiv entdeckt auf dem Flohmarkt in Washington unbekannte Soulplatten: Er findet den Musiker und entdeckt ein ganzes Universum aus Pappe und Nagellack.Schon mal von Mingering Mike gehört? Nein? Seltsam, denn Mike war einer der ganz Großen seiner Zeit. Ein Gigant des Showgeschäfts. Ein Superstar des Souls. Von 1968 bis 1977 schrieb er mehr als 4.000 Songs, managte 35 eigene Labels und trat in 9 von ihm geschriebenen und produzierten Filmen auf, in denen er Hauptdarsteller, Regisseur, Komponist und Produzent in einer Person war. Natürlich war er auch zur Stelle, wenn ein Stuntman gefragt war. Sie fragen, wieso die Welt bis heute noch nichts von Mingering Mike gehört hat? Es könnte daran liegen, dass bis vor kurzem nur Mike selbst von dieser sagenhaften Karriere wusste. Denn der Mann, der sich Mingering Mike nennt, hatte bis vor kurzem keine einzige Platte veröffentlicht. Trotzdem ist er mittlerweile ein anerkannter Künstler und Star. Er hat einen Manager, es erscheinen Artikel und Bücher, weltweit werden Ausstellungen und Symposien ausgerichtet und die Verträge für eine Verfilmung seiner Lebensgeschichte liegen unterschriftsreif vor. Ach ja, seine erste Platte ist auch kürzlich erschienen. Auf limitiertem Vinyl. Kurz nach der Veröffentlichung war sie ausverkauft.
Es fängt - wie die meisten Plattensammlergeschichten - damit an, dass sich ein weißer Mann zu einer absurden Uhrzeit an einem unwirtlichen Ort über eine Kiste zweifelhaften Inhalts beugt. Dori Hadar ist ein freundlicher Mittdreißiger, Hobby-DJ und einziger Sohn einer demokratischen Politikerin. Nach einigen Jahren in Seattle ist er - entnervt von seinen Erfahrungen im mittleren Management von Corporate America - zurück in seiner Heimatstadt Washington und arbeitet jetzt eher ambitionslos als Privatdetektiv für die Anwaltskanzlei eines Freundes. Es ist vier Uhr morgens an einem extrem kalten Dezembertag 2002 und er hat gerade in einem Gefängnis am Rand von Washington einen Mandanten befragt. Da er schon mal auf den Beinen ist, schleppt er sich zu einem nahe gelegenen Flohmarkt in der vagen Hoffnung, die ein oder andere seltene Soulplatte unter Wert zu erstehen.
Washington, D. C., ist ein günstiges Biotop für Plattendigger wie Hadar. Hier trifft eine reiche Musikhistorie auf eine immer größer werdende Schicht von sozial Schwachen, die ihre Habseligkeiten verkaufen müssen, um in einem taumelnden Land ohne funktionierendes Sozialsystem halbwegs klarzukommen. Man findet alles Mögliche und Unmögliche auf diesem Gelände. Es gibt einige Stände mit Vinyl, aber auch Privatleute, die gebrauchte Unterwäsche oder einzelne Schuhe verkaufen. Die Händler beziehen ihre Ware aus Zwangsversteigerungen, wenn Leute ihre Wohnungen verlieren oder das Geld für die Lagerung nicht mehr aufbringen können. "Early bird gets the worm" lautet das Mantra der Digger-Gemeinde und der Morgenmuffel Hadar ist an diesem Tag der Erste, der sich auf dem Markt einfindet. Ein Lastwagen entlädt gerade Dutzende von Kisten mit Platten.
Fünf Jahre später steht Dori Hadar an einem milden Oktobertag 2007 auf dem Flohmarktgelände im vorwiegend von Afroamerikanern bewohnten Nordosten Washingtons und sagt: "Hier habe ich die Sachen gefunden. In der letzten Box. Es gab da diesen Kung-Fu-Soundtrack, eine Platte war ein Tribute-Album an Bruce Lee. Alle sahen aus wie Cover für richtige Schallplatten, waren aber aus grober Pappe und handgemalt. Sie hatten alle eine eigene Katalognummer und stammten von einem Künstler, den ich nicht kannte: Mingering Mike. Ich habe sie für 2 Dollar das Stück gekauft, denn ich dachte: Das kann ich auf keinen Fall stehen lassen. Besonders nachdem ich die Platten herauszog … Ich dachte: Cover für Alben sind eine Sache, aber das mit den Platten …" Die Platten sind nämlich aus Pappe, aber sorgfältig Vinylplatten nachempfunden. Hadar nimmt seinen Flohmarktfund an diesem Tag mit nach Hause. Er stellt die Cover zunächst in die Ecke und fängt erst nach und nach an, sich näher mit den Artefakten zu beschäftigen. Nach zwei Wochen ist er schließlich angefixt und postet Bilder seiner Entdeckung auf Soulstrut, einer Website für Plattendigger: "Die Reaktionen waren unglaublich: Einige der User waren noch aufgeregter als ich selbst. Alle sagten: Du musst versuchen, diesen Typen zu finden." Hadar beschließt, das zu tun, was er am besten kann: Er recherchiert. Durch seinen Job hat er Zugriff auf bestimmte Datenbanken und macht sich mit deren Hilfe auf die Suche nach dem Menschen hinter der Kunstfigur Mingering Mike. Er geht zurück zu dem Flohmarkthändler und bittet ihn, nochmals durch die Kisten mit Mikes Plattensammlung gehen zu dürfen. Er findet Briefe und Rechnungen. Sie bringen ihn aber nicht viel weiter.
Einige Tage nach dem Soulstrut-Artikel meldet sich Frank Beylotte, ein befreundeter Sammler, bei Dori Hadar. Er hat auf einem anderen Flohmarkt den Rest von Mikes Sammlung gefunden. Darunter befinden sich neben einigen handgemalten Labels und Cover für Singles auch Tonbänder, Fotos und Papiere mit der aktuellen Adresse eines Mannes, der mit dem Vornamen Mike heißt. Irgendwann im Frühjahr 2003 stehen Hadar und Beylotte vor der Wohnungstür von Mingering Mike.
"Als die Jungs bei mir klingelten, wollte ich sofort weglaufen", erzählt Mike, ein sanfter Riese mit einem Jungsgesicht und der Ausstrahlung eines freundlichen, aber leicht tollpatschigen Zeichentrickdinosauriers am Abend in der Wohnung seines Entdeckers, Freundes und Managers Dori Hadar: "Ich dachte, sie wären von der Steuerfahndung oder der Militärpolizei. Aber dann erzählten sie mir, dass sie meine Platten gefunden hatten und ich sagte: Meine Babys?"
Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Geschichte von Mingering Mike einfach nur die Geschichte eines phantasievollen, musikbegeisterten Jungen. Er wächst als jüngstes von fünf Geschwistern in Washington, D. C., auf. Nachdem seine Mutter mit 46 an Leukämie stirbt, wird der schüchterne Junge von seinen Geschwistern aufgezogen, da der Vater die Familie schon kurz nach seiner Geburt verlassen hat. Mike verbringt viel Zeit vor dem Fernseher und verfolgt Sendungen wie "American Bandstand" oder "Soul Train". Sein ältester Bruder ist Türsteher des Howard-Theaters. So kann Mike die Konzerte der großen Soulstars in Washington umsonst besuchen. Für ihn steht fest, dass er eines Tages auch auf der Bühne stehen wird.
Im Frühjahr des Jahres 1968 absolviert er als Mingering Rubber Legs Mike mit zwei Cousins erste Auftritte im Cedar Knolls Veteranenheim und der St.-Elisabeth-Klinik für Psychiatrie. Im selben Jahr fängt er an, erste Aufnahmen mit einem Zweispur-Rekorder in seinem Badezimmer einzuspielen. Da weder Mike noch seine Mitstreiter The Big D oder Joseph War ein Instrument beherrschen, werden die Stücke in folgender Besetzung eingespielt: Mingering Mike: Gesang und sämtliche Imitationen von Instrumenten, Joseph War, Telefonbuch und Bettgestell, The Big D: Gesang, Afro-Kamm und Zeitungspapiertröte.
Da er keinen Plattenvertrag hat und zwei Anfragen bei Presswerken zu nichts führen, fängt Mike an, Plattencover aus Pappe herzustellen, um vorbereitet zu sein, wenn seine richtige Karriere eines Tages in Gang kommen sollte. Er zweifelt nicht daran, dass es so kommen wird, schließlich schreibt er fast täglich ein neues Stück mit Titeln wie "Stars in the eyes of man", "Ghetto Prince" oder "Channels of a dream". Die Musik ist da, alles andere ist eine Frage der Zeit. Mike ist ein geduldiger Mann. Doch es kommt anders. Mitte 1969 wird Mike in die Armee eingezogen. Auf Rat seines Cousins desertiert er im Herbst desselben Jahres, als er nach dem Ende der Grundausbildung nach Kambodscha geschickt werden soll. Es gibt (zutreffende) Gerüchte, dass über 50 Prozent der Einheiten an der Front aus Afroamerikanern bestehen und niemand, der ihn kennt, kann sich Mike im Kampfeinsatz vorstellen. Von da an versteckt er sich über zehn Jahre lang bei seinen Verwandten vor der Militärpolizei und bastelt in seinem Zimmer an seiner imaginären Karriere. Eine riesige Fake-Diskographie entsteht. Mingering Mike ist an allen Platten als Künstler, Songschreiber oder Produzent beteiligt. Erfundene Künstler singen Songs, die es nicht gibt, veröffentlichen Soundtracks von Filmen, die niemand je gesehen hat, auf Labels, die nicht existieren.
Mike gestaltet nicht nur die Cover der Schallplatten, sondern auch die zugehörigen Vinylscheiben aus Pappe. Dazu vermisst er die Rillen echten Vinyls, zählt die Anzahl der Songs auf dem imaginären Werk und gestaltet die Pappschallplatten entsprechend. Jedes seiner Alben enthält das Datum der Aufnahme, ein handgemaltes Label, Danksagungen, Verlagsangaben und Katalognummern. Er benutzt Nagellack, um die Leerrillen zwischen zwei Stücken zu markieren. Manche Platten sind in Cellophan eingeschweißt und enthalten Preisschilder. Außerdem verfasst er zu jeder Platte Linernotes, in denen er der Welt mitteilt, was er gerade mitzuteilen hat. Dabei ist er künstlerisch immer auf der Höhe seiner Zeit: Prägen anfangs noch Balladen im Stile des Sweet Soul seinen Output, orientiert er sich im Laufe der Zeit immer mehr an seinen Vorbildern Curtis Mayfield und James Brown. In den frühen Siebzigern entwirft er Alben wie "Getting to the roots of all evil" (1971) oder "Fractured Soul and Otherwise" und landet schließlich bei Blaxploitation-Soundtracks wie "Bloody Vampire" oder "On the beach with the sexorcist" (1974). Seine Diskographie ist ein privates Simulacrum eines Jahrzehnts der Soul-Historie. Es ist das Werk eines Außenseiterkünstlers.
"Außenseiterkunst", schreibt der Kunsthistoriker Marcus Davies, "ist das Ergebnis einer lebenslangen - oft genug gedankenverlorenen - Beschäftigung auf der Suche nach transzendenten Mitteln zur Überwindung von Entfremdung und Isolation. Außenseiterkünstler sind von nicht unterdrückbarer emotionaler Notwendigkeit getrieben und werden dadurch zu Architekten einer unüberschaubaren und enzyklopädisch reichen Welt, nicht als Kunst, sondern als Ort, in dem man leben und überleben kann."
1977 endet die Karriere von Mingering Mike. Präsident Jimmy Carter erlässt eine Amnestie für die Deserteure des Vietnamkriegs und Mike tritt eine Stelle als Nachtwächter an. Sein ganzer Output, seine Plattencover, seine Texte und seine Tonbänder landen zusammen mit seiner echten Plattensammlung in einer Lagerhalle - bis zu dem Tag, an dem er die Miete nicht mehr aufbringen kann und ohne Vorwarnung eine Zwangsversteigerung angesetzt wird. Den Rest der Geschichte kennen sie bereits.
Autor Steffen Irlinger, veröffentlicht am 22.09.2008 und hier abrufbar
www.taz.de
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