Wednesday 13 July 2011

Detektiv des Alltags

von Matthias Reichelt

Veröffentlicht im Feuilleton der Tageszeitung "Junge Welt" (08.07.2011) in redigierter Fassung unter dem Titel "Eine Unterkühlung - Kunst als empirische Sozialforschung: Eine Ausstellung in Berlin"
online: http://www.jungewelt.de/2011/07-08/036.php




Die Welt ist kompliziert, wird von Tag zu Tag undurchsichtiger und ist für viele Menschen kaum mehr zu verstehen. Es bedarf einer genauen Beobachtungsgabe, eines starken Willens zur Erkenntnis und Fleiß zur kontinuierlichen Dokumentation, um den Geheimnissen des Alltags auf die Spur zu kommen. Das klingt nach Wissenschaft, nach Empirie und in der Tat gibt es Bezüge zu der von Horst Ademeit (1937–2010) in großer Akribie betriebenen Erforschung seiner persönlichen Umwelt. Nachdem Ademeit Ende der 1980er Jahre eine Sozialwohnung im Düsseldorfer Stadtteil Flingern bezogen hatte, wurde er auf verschiedene merkwürdige Phänomene aufmerksam. In nur 14 Jahren dokumentierte der ausgebildete Künstler auf 6006 Polaroids detailliert seine nähere Umgebung und hielt alles fest, was ihm auffällig und registrierenswert erschien. Arglos in der Straße abgestellte Fahrräder oder Einkaufswagen, denkwürdige Schaufensterauslagen, schadhafte Stellen am Haus und zahlreiche Arrangements von Objekten und Messgeräten.

Nach einer Ausbildung als Maler und Anstreicher in den 50er Jahren hatte er als Feinmechaniker gearbeitet, bevor er ab 1964 die Werkkunstschule in Köln besuchte. Kurzzeitig nahm er auch an der Beuys-Klasse in Düsseldorf teil und absolvierte in den 1970er Jahren noch ein Pädagogikstudium, ohne je als Lehrer zu arbeiten. Stattdessen wurde er arbeitslos und besserte seine Sozialhilfe durch Schwarzarbeit mit Renovierungen auf. Eines seiner ersten Polaroids machte Horst Ademeit am 5. Oktober 1990 um15.30 h und kennzeichnete es in der linken Ecke mit „4 e“. Er hielt darauf die Schaufensterauslage des Geschäftes „HAKO“ fest. Auf dem weißen Rand notierte er: „Schadowstr. Düsseldorf/ Auslagen Kompasse! Insgesamt eher Nord als sonstige Ausrichtung laut Leuchtblattziffern.“ Diesen Tagesbildern fügte er immer alle ihm wichtigen Informationen und Beobachtungen hinzu. Sie enthalten Bezüge zu Zeitungsmeldungen, Information über das eigene Befinden sowie die gemessenen Strahlungen. Ademeit entschloss sich, seine für zu niedrig befundene Körper- wie auch die Raumtemperatur in Messungen nachzuweisen und die Ergebnisse festzuhalten. Dafür benötigte er unterschiedliche Messgeräte, die er wiederum im Bild festhielt. Den „Kältestrahlen“ wollte er wissenschaftlich auf den Grund gehen. Seine Rapporte notierte er aufgrund des zunehmenden Textvolumens in immer kleinerer Schrift auf den Polaroids und auch in Faltkalendern. Nach dem Ende der Polaroidtechnik führte er seine fotografischen Untersuchungen in digitalem Format fort und legte dazu Karteikarten an. In der ersten Ausstellung einer von Claudia Dichter und Udo Kittelmann begründeten Reihe „secret universe“ wird dieses konzeptuell geschlossene Werk im Hamburger Bahnhof erstmals in Ansätzen vorgestellt. Die Kölner Galerie Susanne Zander war vor einigen Jahren auf Ademeit aufmerksam geworden und stand lange in persönlichem Kontakt mit dem unter einer Psychose leidenden Künstler, bevor dieser im letzten Jahr an Magenkrebs starb. Gesellschaft und Kunstbetrieb sind immer schnell mit ihren Schubladen zur Endlagerung auffälliger oder als psychopathologisch eingestufter Persönlichkeiten und deren Arbeiten. Sie erhalten das Label „Outsiderkunst“ oder „Art Brut“, die Schublade geht wieder zu und wird nur noch von Leuten geöffnet, die über Geisteskrankheit und Kunst forschen. Das ist nicht nur zu kurz gedacht sondern auch falsch. Denn wo sollte die Grenze gezogen werden, wären von allen gehypten Künstlern die psychischen Krisen und deren Auswirkungen auf die Werke bekannt? Und zum anderen besteht ja das Faszinosum des Systems Kunst darin, dass sich in ihm Gestaltungswille und individueller Ausdruck materialisiert. Es ist ein Abenteuer, eine fremde Welt zu entdecken und zu entschlüsseln. Am Anfang steht vielleicht nur die Faszination für die Beharrlichkeit und den Umfang des Werks. Dann ist die Gestaltung zu entdecken, die formalästhetisch ihre Reize hat. Das Verhältnis von Text zu Bild, die Zunahme des Textvolumens und das darin zum Ausdruck kommende Mitteilungsbedürfnis sowie Ademeits immer dezidierterer Gestaltungswille bei der Nummerierung wecken die Neugier, das komplexe Werk zu durchdringen. In der Ausstellung sind die Polaroids sowohl in Vitrinen wie auch en bloc als massiver Fries an der Wand appliziert. Gerade an Ademeits Arbeit lässt sich ein geschlossenes und nachvollziehbares Dokumentationssystem erkennen, das in seiner Kompaktheit und Konsequenz beeindruckt. Es ist gleichzeitig das Tagebuch eines hypersensiblen Künstlers, in dem sich die Tagesereignisse anhand von Zeitungen und Kommentaren spiegeln. In vielen seiner Polaroids gestaltete er Stillleben aus Messgeräten, Lebensmitteln und anderen Objekten auf Ausgaben von Springers Bild-Zeitung. Im Arrangement ist Ademeits Gespür für den Wahnsinn der medialen Politik erkennbar. Irak-Krieg, Verona Feldbusch und Terrorismus werden zu einem Mahlstrom der Banalisierung vereint.

Übrigens sind Ademeits Ängste vor den Kältestrahlen so falsch nicht. Angesichts aller heutigen Erkenntnisse über Elektrosmog oder schädlicher Dämpfe durch Wärmedämmung an Häusern haben sie einen realen Hintergrund. In einer Broschüre über Baumaterialien hatte er die Angaben mit Skepsis betrachtet und kommentiert. Unter Asbest stand bei Gesundheitsgefährdung: Ungiftig. Ademeit hat es markiert und dahinter lakonisch vermerkt: „Heute giftig“.

Die Ausstellung "Horst Ademeit - secret universe" läuft bis zum 25. September im Hamburger Bahnhof, Berlin

Eine begleitende Publikation ist im Verlag Walther König erschienen:
www.buchhandlung-walther-koenig.de

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